Das Chorgestühl von Heinrich Schickhardt d.Ä. von 1517

Das prächtige, aus Eichenholz geschnitzte Chorgestühl der Herrenberger Stiftskirche ist signiert von Heinrich Schickhardt (d.Ä.), dem Großvater des gleichnamigen Renaissancebaumeisters, mit dem Hinweis auf das Datum der Fertigstellung 1517. Heinrich Schickhardt, der aus Siegen in Westfalen nach Herrenberg zugewandert war, zeichnete als Schreinermeister für den Gesamtauftrag des Chorgestühls verantwortlich. Wie es damals üblich war, zog er weitere Handwerker und Künstler zur Fertigung des Werkes hinzu. Dr. Karl Halbauer hat unter den Schnitzern der Reliefs und Büsten des Chorgestühls den Bildhauer Christoph von Urach identifizieren können.

Auftraggeber des Chorgestühls war Johannes Rebmann, der Propst der Chorherrengemeinschaft der „Brüder vom Gemeinsamen Leben“ an. Sie gehörten einer religiöse Reformbewegung an, die aus den Niederlanden stammte. Graf Eberhard im Barte hatte sie 1481 anstelle der vorher hier ansässigen weltlichen Chorherren eingesetzt. Die Brüder ahmten die Gemeinschaft Christi mit den Aposteln nach. Sie lebten ein klosterähnliches Leben, jedoch außerhalb eines Klosters, ohne Privatbesitz, dem Propst zu Gehorsam verpflichtet.

Seit der Mitte des 15. Jh. trennte ein Lettner den Chor von der übrigen Kirche. Im Chor feierten die Stiftsherren den Gottesdienst. Die Bilder und Inschriften des Chorgestühls und auch des Hauptaltares („Herrenberger Altar“) waren den Blicken des einfachen Volkes im Kirchenschiff entzogen und richteten sich direkt und ausschließlich an die Brüder vom Gemeinsamen Leben. Diese hatten die zum Verständnis der Darstellungen nötige theologische Bildung.

Dem Chorgestühl liegt ein kompliziertes theologisches Programm zugrunde, das Propst Rebmann selbst entworfen hatte. Es drückt das Selbstverständnis und die Frömmigkeit der Brüder vom gemeinsamen Leben aus. Auf den Reliefs an den Rückwänden des Gestühls ist das apostolische Glaubens-bekenntnis dargestellt. Ausgangspunkt ist Christus, der ein Schriftband mit einem Zitat aus Joh. 15,16 trägt: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt, auf daß ihr hingehet (und Frucht bringet)“. Diese Botschaft richtete sich direkt an die Brüder vom Gemeinsamen Leben, die sich in der Nachfolge der Apostel als Auserwählte sahen. An Christus schließt sich eine Reihe von 24 männlichen Halbfiguren an, immer abwechselnd ein Apostel und ein Prophet oder König des Alten Testaments. Die Apostel tragen auf ihren Schriftbändern die Sätze des Credo, dazwischen erscheinen die Propheten des Alten Testamentes mit Worten aus den Psalmen und ihren Weissagungen.

Den Schmuck an Pulten und Wangen bilden folgende Darstellungen: das Opfers Abrahams, die Arche Noah, die Trunkenheit Noahs, die vier Evangelisten, die Verkündigung, Johannes der Täufer, Gottvater im Paradies, die Taufe Christi, eine Reihe von Heiligen, die vier Kirchenväter, zwei Vertreter von Mönchsorden (Hl. Benedikt und Hl. Bernhard von Clairvaux) sowie der Erzengel Michael als Seelenwäger. Weitere Reliefs stellen Brüder des Gemeinsamen Lebens, eine Begine, Nikolaus von der Flüe und einige nicht eindeutig deutbare Personen dar. Die vollplastischen Büsten auf den Chorgestühlwangen haben Bezug zu den Sieben Freien Künsten, auf denen die mittelalterliche Universitätslehre basierte.

Eine Monographie zum Chorgestühl ist auf Anregung des Vereins zur Erhaltung der Stiftskirche im Jahr 2008 beim Verlag Schnell und Steiner erschienen.